Aufstellungsarbeit

Aufstellungsarbeit

Bei meinen Überlegungen und Recherchen zum Thema Denken und Sprache ist mir ein Buch begegnet, in dem essentielle Erfahrungen aus 30 Jahren Aufstellungspraxis beleuchtet und Fragen aufgegriffen werden, die mich immer wieder beschäftigt haben. Es sind Fragen, die einerseits die sprachliche Kommunikation betreffen und andererseits die Gestaltung des Feldes, des gemeinsamen Raums, der Zugang eröffnet zu einer inneren Welt, die im Alltag verborgen bleibt.

Wodurch entsteht der Raum, der das ermöglicht und gerne als „wissendes Feld“ bezeichnet wird? Welche Rolle spielt dabei die Autorität der Aufstellungsleiterin, ihr weltanschaulicher und therapeutischer Hintergrund? Welcher Einfluss entsteht durch die Zusammensetzung der Gruppe, die einzelnen Teilnehmer und Stellvertreterinnen?
Welchen Stellenwert hat die Formulierung des Anliegens der Person, die aufstellen will?

Während ich überlegte, wie ich meine Erfahrung bei einer Aufstellung am besten beschreiben kann, ist mir der spanische Philosoph und Soziologe Ortega y Gasset eingefallen, der als seine entscheidende Erkenntnis bezeichnet: „Ich bin ich und meine Lebensumstände“. In einem Essay mit dem Titel „Schweigen, das große Brahman“ bringt er auf charmante Weise sein Bedauern zum Ausdruck, dass wir verschweigen, was wir über den anderen wissen und unsere eigene Person für undurchsichtig halten, und wie schade es sei, dass wir dieses Lebenswissen unausgesprochen mit ins Grab nehmen. Und fragt am Schluss, welche Ausdrucksform dafür angemessen wäre.

Aufstellungsarbeit könnte eine Antwort auf diese Frage sein und zugleich lösen aus der Einsamkeit des inneren Erfahrungsschatzes. So zumindest habe ich die ersten Aufstellungen meiner Herkunftsfamilie und meiner intimen Beziehungen erlebt.
Die wesentliche Erfahrung dabei wird nicht über die Sprache vermittelt, sondern über ein Körperwissen, das offenbar allen Menschen zu eigen ist und uns zugleich verbindet.

Was ich in einer Aufstellung erlebe, kann ich am ehesten beschreiben als ein Theaterstück, in dem Beziehungen zwischen den Gestalten meiner Seele, meiner inneren Vorstellungswelt, durch Stellvertreter dargestellt werden, denen es gelingt, in meine Welt einzutauchen und diese wie in einem Spiegel für mich und die anderen Teilnehmerinnen sichtbar und erfahrbar werden zu lassen. Das Spiel entfaltet sich über Positionen und Bewegungen im Raum, die mit bestimmten Körperempfindungen und Gefühlen verbunden sind.

Der sprachliche Ausdruck spielt dabei eine Rolle, wenn im Gespräch mit der leitenden Gastgeberin mein Anliegen geklärt und für alle Teilnehmerinnen verständlich dargelegt wird. Zugleich wird entschieden, welche Personen, Themen oder Symptome durch Stellvertreter verkörpert werden sollen. Die Stellvertreterinnen bringen ihre Empfindungen und Gefühle zum Ausdruck oder auch Sätze, die sich ihnen in der übernommenen Rolle aufdrängen, und die Leiterin greift manchmal ein, um das Geschehen zu steuern.

Oft sind es schmerzhafte oder traumatische Erfahrungen, die in diesem Rahmen zutage treten, die verursacht wurden durch bestimmte Lebensereignisse oder das Verhalten anderer Menschen, mit starken Gefühlen, mit Scham oder Schuld besetzt sind. Deshalb ist die Gestaltung eines sicheren und zugleich offenen Rahmens von entscheidender Bedeutung, für dessen Aufrechterhaltung die leitende Gastgeberin verantwortlich ist und der mit getragen wird von allen Teilnehmenden.

Die Erinnerungen, die dabei ins Bewusstsein treten, stammen nicht nur aus dem bisherigen eigenen Leben sondern auch aus vorangegangenen Generationen, aus Erfahrungen von Menschen, die ich nie kennenlernen konnte, von denen mir auch nicht erzählt wurde und die ich dennoch übernommen habe, so als hätte ich sie selbst durchlebt.

Das ist, als wären wir durch die in ferner Vergangenheit zusammenfließenden Wurzeln alle miteinander verbunden und als hätte jeder von uns einen Teil des Versöhnungswerks übernommen , das darin besteht, sich zu erinnern und das Geschehene anzuerkennen,die Kraft, die darin liegt, zu würdigen und zu befreien für die Gestaltung neuen Lebens.


Innere Aufstellungen

Mir ist das schon mehrfach passiert, dass ich in der Gruppe so tief eintauche in das Erleben, als wäre das alles meins, und dabei meinen eigenen inneren Boden verliere. Wenn ich selbst aufstelle, kann sich das so auswirken, dass ich die Worte nicht finde, mein Anliegen dem entsprechend auszudrücken, wie ich es in mir wahrnehme. Wenn die Leiterin dann einen Vorschlag macht, welche Personen ich dazu aufstellen könnte, kann ich den nur übernehmen, auch wenn ich in mir spüre, dass das so nicht stimmt.

Daraus entwickelt sich eine Aufstellung, die ich erlebe, als wäre sie mir aufgeprägt worden, übergestülpt, als wäre es nicht mehr als eine erneute Inszenierung dessen, was ich schon so lange als Lebenshindernis in mir trage und bisher nicht auflösen konnte. Und das fühlt sich so an, als würden alle zuschauen, ohne mich dabei überhaupt wahrzunehmen.

Den Raum der Erinnerung, wie er sich in der Gruppe so eindrucksvoll miterleben lässt, kann ich auch im Inneren betreten, in einer leichten Trance und in Begleitung eines damit erfahrenen Menschen. Das ist, als würde ich in den Räumen meiner Seele spazieren gehen und Personen besuchen, mit denen ich etwas zu besprechen oder zu klären habe.

Für mich ist es auf diesem Weg leichter, begleitet durch eine Therapeutin, den Spuren in meine frühe Kindheit zu folgen oder in die Geschichte meiner Familie - in einer inneren Stille, die mir ermöglicht, mich dem zu nähern, was da geschehen ist und es anzuschauen, ohne dabei erneut davon überwältigt zu werden - und ohne dass dabei äußere Personen sich einmischen können.

In der Arbeit mit einzelnen Menschen nutze ich auch gerne die Möglichkeit, statt der Stellvertreter markierte Stellen am Boden, sogenannte Bodenanker zu verwenden, in die meine Klientin sich dann nacheinander einfühlen kann.


Parzival und die Gralsfrage

Während meiner Schulzeit habe ich alle Sagen und Märchen gelesen, die ich in den Bücherregalen meiner Familie finden konnte. Besonders fasziniert haben mich die Geschichten über König Artus und seine Tafelrunde, über das Nebelreich Avalon und den heiligen Gral, die lange Irrfahrt des Ritters Parzival.

Parzival ist es bestimmt, den Gralskönig Anfortas, der auf der Burg Munsalvaesche dahinsiecht, von seinem Leiden zu erlösen und dessen Nachfolge anzutreten.
Dazu müsste es ihm gelingen, Anfortas die entscheidende Frage nach dessen Leiden zu stellen, die im Originaltext lautet: Oheim, was wirret Dir? Doch das darf ihm keiner sagen.

Beim ersten Besuch auf der Gralsburg – Parzival hat sich schon als Ritter bewährt, einige Gewalttaten mit eingeschlossen, und eine wunderschöne Königin zur Frau gewonnen - hat er sich innerlich noch nicht befreit aus der behüteten Welt seiner Kindheit, weiß noch nichts von seiner Bestimmung. Und weil er den gesellschaftlichen Anstandsregeln seines Lehrers folgt, traut er sich nicht, die naheliegende Frage zu stellen.

Danach wird er in die Tafelrunde von König Artus aufgenommen und erlangt damit die höchste Ehre, die einem Ritter zuteil werden kann. Trotzdem lastet sein Versagen in der Gralsburg, die seither aus der für ihn erreichbaren Welt entschwunden ist, auf ihm wie ein Fluch. Und er macht sich auf eine lange einsame Suche, übernimmt endlich Verantwortung für seine Gewalttaten und findet einen Lehrer, der ihm hilft, sich mit Gott zu versöhnen.

Nachdem er so gereift ist, eröffnen sich ihm erneut die Tore der Gralsburg, er kann die Frage stellen, die Anfortas und auch ihn selbst erlöst. Er holt seine Frau und seinen Sohn Lohengrin in die Gralsburg, wo er von da an in Fülle lebt.


Was mich an der Geschichte interessiert, ist vor allem die erlösende Frage. Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, warum ein Mensch solche Mühen auf sich nehmen muss, um schließlich aus Mitgefühl den anderen nach seinem Leiden fragen zu können. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach dem tieferen Sinn gemacht.

In der Begegnung mit Klienten habe ich oft eine Ahnung, worum es geht, doch ich kann das nicht greifen, finde nicht die passenden Worte, die passende Frage und folge dann einem Konzept, das ich mir vorher zurechtgelegt habe.
Das erinnert mich an meine Enttäuschung, wenn ich nach einer Aufstellung das Gefühl habe, mit meinem Thema wieder ganz auf mich alleine zurückgeworfen zu sein, weil es mir nicht gelungen ist, mich mit meinem Anliegen verständlich zu machen.
Das ist, als würde sich die Katze selbst in den Schwanz beißen, als gäbe es tief in mir eine Barriere, die jedem anderen den Zugang verwehrt und die ich nur von innen her selbst lösen kann.

Nach der Lektüre in „Essenzen der Aufstellungsarbeit“ hat sich mir ein neuer Blick auf dieses Thema eröffnet, in dem sich auch meine anfangs gestellten Fragen auflösen.

Ausgangspunkt ist das Bewusstsein, dass ich tief im Inneren mit allen und allem verbunden bin, und dass jeder Mensch, der geboren wird, einfach ist, grundlos und ohne Ursache, in essentiellen Qualitäten wie Freude, Liebe, Kraft, Mut, Klarheit, Willen oder Mitgefühl. Das nicht-bedingte Sein trifft schon im Mutterleib auf die Bedingtheit des irdischen Lebens in einem Umfeld, das der Verwirklichung seiner wesentlichen Anlagen entweder förderlich oder hinderlich ist.

Dieses Bild aus dem Zen-Buddhismus erlebe ich als entlastend für den Kontakt mit Klienten. Es ermöglicht mir, eine neue Haltung entstehen zu lassen, die geprägt ist von Gewahrsein, Mitschwingen mit dem Geschehen und Absichtslosigkeit. Denn ich kann dem anderen nichts geben oder vermitteln, was er nicht schon in sich trägt. Und ich kann die Techniken und Konzepte, die ich mir angeeignet habe, sich selbst überlassen im Vertrauen, dass aus dem Weg, den ich bereits zurückgelegt habe, aus meiner eigenen Suche nach Wahrheit sich mir eröffnen wird, was als Nächstes zu tun und zu sagen ist.


Bild: Duftbild Schafgarbe