Auf eigenen Füßen

Auf eigenen Füßen

Auf eigenen Füßen – das sollte die Überschrift sein für die Texte zu meinem Pilgerweg nach Santiago im Jahr 1992. Dann fiel mir ein, was mich zu der Pilgerreise bewegt hat.

Denn mit dem Pilgern ist das so eine Sache. Ich nehme, besonders wenn ich zu Fuß gehe, körperliche Strapazen auf mich, um einen bestimmten heiligen Ort zu erreichen. Nicht, weil ich genau diesen Ort unbedingt einmal sehen wollte, sondern weil ich daran glaube oder wenigstens hoffe, dass ich dort etwas empfangen werde, das mir Heilung bringt, mein Leben verwandelt oder erneuert.

Zumindest ich folgte so einer Sehnsucht: Ich wollte mich allein und aus eigener Kraft befreien von dem, was mich bisher gehalten hat im doppelten Sinn. Und mit mir ging die Hoffnung, ich könnte dann einfach neu mein Leben beginnen, so wie ich mir das wünsche.

Auch wenn es dann nicht so gekommen ist, wie ich mir das vorgestellt hatte, habe ich ein halbes Jahr später meinen Job als Biochemikerin gekündigt, wollte von da an mit Menschen arbeiten. Dabei tauschte ich die abstrakte Welt der Biomoleküle gegen die Lebensgeschichten von Menschen, die aus solchen Molekülen bestehen, das naturwissenschaftliche Denken gegen ein mehr anekdotisches und mythologisches, das objektiv Nachvollziehbare gegen das Subjektive.
Zwischen diesen beiden Welten bewegt sich mein ganzes Leben. Denn irgendwo dort wohnt das Bewusstsein, das ich seit meiner Schulzeit ergründen will.

Das Wissen um diesen Zwiespalt hat auch zur Folge, dass ich mich auf keinen Glauben einlassen kann, der sich der gelebten Erfahrung entzieht und der nicht zugleich auch mein Denken erhellt. 

Und wenn ich jetzt noch einmal lese, was ich nach der Pilgerreise geschrieben habe:

Auf der Reise konnte ich alles ablegen, auflösen. Da war nur mehr ich, und auch ich, ohne zu sprechen, um so mehr ich, ohne zu denken. Die Worte, die Gedanken vernebeln die Welt. Kann ich sie ganz klar machen, ganz rein - damit sie sich einfügen in diesen Saum aus Licht - sanfte Worte, die ihn nicht aufwühlen in Schwarz und Weiß, in Licht und Schatten - höchstens in die Pastelltöne eines Regenbogens.

Klarheit ohne Schärfe, ohne Begrenzung. Ich will Gedanken wie ein Regenbogen - wie ein Wassertropfen, ein Kristall das weiße Licht in farbiges Feuer bricht.

Ein Kristall hat Kraft, hat Klarheit. So wie die Welt auf mich fällt, sie brechen und widerspiegeln in meiner Seele. Das geschieht und geschieht, doch die Spiegel sind nicht rein. Und so gehen all diese Strahlen auf im undurchdringlichen dichten Gewirr der Welt. Und ich kann mich nicht erkennen und werde nicht erkannt. Das ist, als hätte ich nicht gelebt.

Mehr und mehr den Kristall zum Leuchten bringen - zum Schwingen bringen, bis er birst - durchsichtig wird, durchdringbar. Keine Kanten mehr - und doch Struktur. Keine Grenze mehr und doch Gestalt. Eine Facette des Großen Lichts?


Bild: Duftbild Vetiver