Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

Während ich die Texte schreibe für meinen Blog, denke ich immer wieder auch an meinen Freund Jens, der 2020 gestorben ist. Die Einsichten und Erkenntnisse, die ich gewinnen konnte, verdanke ich mit der Liebe, die uns verbindet, der Inspiration und Bestätigung, die er mir schenkte. Manchmal ist es so, als würde Jens neben mir sitzen, ganz munter, und aufmerksam beobachten, was ich so tue. Und während ich das jetzt zum Ausdruck bringe, wird mir ganz warm ums Herz.

Die folgende Geschichte - zugleich ein Nachhall aus Covid-Zeiten - ist mir im März bei einem späten Frühstück mit Geigenmusik ganz unbeabsichtigt in den Kugelschreiber geflossen.

Es war zu Beginn der Corona-Pandemie, Ende Februar 2020.
Gerade wollte ich meinem Freund Jens zum Geburtstag gratulieren, da läutete das Telefon.
Es war Jens, und er konnte kaum sprechen, bat mich, das Krankenhaus anzurufen, er habe wohl einen Schlaganfall erlitten.
Dieses Gespräch fand statt zwischen Eutin in Schleswig-Holstein und Schladming. Gar nicht so leicht, von Österreich aus in Deutschland den Rettungsdienst zu alarmieren. Doch schließlich gelang es, auf Umwegen. Und eine halbe Stunde nach seinem Anruf bei mir war Jens auf dem Weg in die Stroke Unit des Krankenhauses in Neustadt, direkt an der Ostsee, mit Blick auf das Meer.

Jetzt gerade höre ich Jens’ Lieblingsmusik, die Solosonaten für Violine von Eugene Ysaye, die ich vier Wochen später auch in der Palliativstation für ihn abgegeben hatte. Die Musik trägt mich in das intensive Erleben während des ersten Lockdowns (was für ein schreckliches Wort ), das nun bald drei Jahre zurückliegt.

Da ich keine Verwandte bin, konnte ich von der Klinik keine nähere Auskunft erhalten über das Befinden meines Freundes. Es war nur die Rede davon, dass er Mitte März in eine Reha-Klinik gebracht werden sollte. Spätestens dann wollte ich bei ihm sein, ihn nicht alleine lassen in den Wirren, die sich schon abzuzeichnen begannen.

Auch wenn es dann anders kam: dieses Datum führte dazu, dass ich es gerade noch schaffte, Österreich zu verlassen und in Schleswig Holstein einzureisen, bevor alles dicht gemacht wurde. Wegen der Verpflichtung, die ich für meinen Freund übernommen hatte, durfte ich dann auch bleiben, mich frei bewegen, allerdings mit Klinikverbot für zwei Wochen. Doch davon wusste ich nichts, als ich Jens in der Intensivstation besuchte.


Seit meiner Rückkehr aus Eutin im Mai 2020 scheint durch die Dichte der Ereignisse unendlich viel Zeit vergangen zu sein. Ich hatte zwei Monate verbracht in einer Umgebung voll Schönheit und unter freundlichen Menschen, die einen mehr entspannten und humorvollen Umgang mit den Beschränkungen lebten, als ich es hier in Schladming hätte erleben können. Auch wenn alles, was ich zu tun hatte, durch die geltenden Regeln erheblich beeinträchtigt wurde.

Das begann beim Internetanschluss für meinen Laptop – ein Smartphone hatte ich damals noch nicht. Dafür konnte ich nur das öffentliche WLAN im benachbarten Park nutzen. Anfangs war es recht kalt oder regnete, bei Sonne fehlten die Blätter der Bäume, sodass ich auf dem Bildschirm nur Verschwommenes sehen konnte. Dafür gab es einen Rhododendron mit weit ausladenden Ästen, in den ich mich kauerte. Was mir die Frage zweier älterer Damen eintrug, ob ich hier meine Schulaufgaben mache.
Und abends konnte ich die Beschriftung der Tastatur nicht erkennen und musste mich unter eine Laterne direkt neben dem WLAN-Kastens stellen, auf dem ich den Laptop abstellte – mit Blick auf den dunklen See.

Jens ist dann gestorben am 30.März, in der Nacht vor dem Tag, an dem ich ihn wieder hätte besuchen dürfen. Die Pfleger in der Palliativstation, die ich täglich anrief, hatten sich schon gewundert, dass er noch so lange lebte - als würde er auf mich warten.

Damit ließ er mir Zeit, mich an seiner Stelle zu verabschieden von den Blicken über den See auf die Stadt, von den Plätzen, die wir gemeinsam besucht hatten, von dem Park und dem Wald, in dem er gerne spazieren ging. All diese Bilder sehe ich noch deutlich vor mir. Besonders das Frühlings-Begrüßungs-Zwitschern in den Bäumen und das Konzert der Seevögel halfen mir, ihm nahe zu sein. Und tatsächlich lag die Palliativstation nur 5 Minuten Fußweg entfernt.

Ich bin dann noch geblieben, um das Begräbnis zu organisieren und den Nachlass zu regeln, auch das mit Komplikationen, weil Banken, Ämter und Notare geschlossen hatten und auch telefonisch nur schwer erreichbar waren. Dafür habe ich das Bestattungsunternehmen in sehr angenehmer Erinnerung, der einzige Ort, wo ich persönlich und ausführlich sprechen konnte mit Menschen. Und ein Freund von Jens war beim Begräbnis dabei, auch im Freien waren nur zwei Teilnehmer zugelassen. Dafür wurde der Sarg von 6 Trägern in einer besonderen Uniform feierlich den kurzen Weg von der Einfahrt zur Grabstätte getragen. Die Grabrede erinnerte mich in ihrer norddeutschen Trockenheit an einen Spruch von Jens’ Vater, den er zu meinem Ärgernis gerne zitierte: Bergauf, Bergab und dann ins Grab. Und Jens schien daneben zu stehen und sich zu amüsieren - all das an einem herrlichen Frühlingstag, direkt am großen Plöner See.


Noch immer geschieht es, dass mich Schmerz überfällt und Tränen sich lösen, wenn ich Violinmusik höre. Durch das Fenster fällt mein Blick auf einen großen, noch kahlen Baum, und dahinter auf die noch weißen Schiberge und einen sanft beleuchteten blassblauen Vorfrühlingshimmel. Durch dieses Bild hindurch gelingt es mir, in eine Weite zu blicken, wo Jetzt und Damals ineinander fließen und mit dem Schmerz auch das Gefühl der Trennung sich auflöst.

So habe ich die letzte Begegnung mit Jens empfunden, trotz all der Schläuche, die an seinem Körper hingen, und ohne dass wir uns, wie vorher so oft am Telefon, mit Worten austauschen konnten. Denn Jens konnte nicht mehr sprechen, und mir gelang es nicht so, wie ich mir das gewünscht hätte, die richtigen Worte zu finden, die vielleicht auch ihm noch ermöglicht hätten, sich zum Ausdruck zu bringen.

Dieser Wermutstropfen änderte jedoch nichts an meiner Empfindung: Alles ist abgefallen, was bisher zwischen uns stand. Jetzt, an der Schwelle zum Tod, könnten wir beginnen, ein gemeinsames Leben zu führen, wie es uns in den 45 Jahren, die wir einander verbunden waren, nur über kurze Strecken gelungen ist. Vielleicht war er deshalb traurig, wie er mir zu verstehen gab, doch er hatte keine Angst vor dem Tod.

Ich habe das einmal so ausgedrückt: Wie begegnen einander in der Unendlichkeit - auf der Suche nach Wahrheit, der wir uns auf unterschiedlichen und kaum vereinbaren Wegen zu nähern versuchen. Im gemeinsamen Alltag hätten wir einander, trotz aller Sehnsucht, zu sehr behindert – ohne dass es uns möglich gewesen wäre, die daraus entstehenden Unstimmigkeiten immer wieder in einer erfüllenden sexuellen Begegnung zu lösen.

Auf einer anderen Ebene ist das aus 1200 km Entfernung gelungen, in Telefongesprächen über die Arbeit an seinen Texten, die er mir vorlas. Dabei lag es an mir, mich einzufühlen, über eine körperliche Empfindung, die durch den Klang der Worte ausgelöst wurde, mich einzuschwingen in eine Resonanz, die mir ermöglichte, eigene Erkenntnisse, die ich nicht hätte in Worte fassen können, in seinen Worten bestätigt zu finden.
„Als wären wir einander im Ergebnis begegnet und damit - für einige Augenblicke - aus der Einsamkeit der subjektiven Erkenntnis erlöst worden“, wie ich in einem Brief an ihn schrieb.

Als mich die Ärzte in der Klinik fragten, verwundert ob der Strapazen, die ich auf mich genommen hatte, in welcher Art von Beziehung ich stehe zu Jens, konnte ich nur sagen: Es ist eine ungewöhnliche Liebe. - Auch wenn ich damit immer wieder gehadert habe, sehe ich jetzt, welch seltene Kostbarkeit mir durch diesen Menschen geschenkt wurde.

Leider konnte Jens sein Werk, dem er die letzten 10 Jahre seines Lebens gewidmet hatte, nicht mehr vollenden. Die Zeit reichte einfach nicht aus, zudem war er immer wieder beeinträchtigt durch gesundheitliche Probleme. Die Texte, die geblieben sind, konnten nur entstehen durch seine akribischen naturwissenschaftlichen Bemühungen, die Therapie seiner Krankheit selbst zu gestalten. Dabei hat ihm das Schreiben zugleich Kraft und Mut gegeben.

Diese Sprachskulpturen, wie er sie nannte, die er aus dem innerlich Erschauten über das Schöpferische Prinzip, die Macht der Sprache und die Bestimmung menschlichen Seins gestalten konnte, hat er mir gewidmet und übereignet.
Wie sich bei einem Vortrag und in Gesprächen nach seinem Tod herausgestellt hat: Seine Freunde konnten die Erkenntnis an der Grenze des noch begrifflich Fassbaren nicht nachvollziehen. Und auch mir ist sie nur zugänglich, weil ich am Prozess der Entstehung teilhaben konnte.

So bin ich als Einzige übrig geblieben, die noch um den Feenstaub zwischen uns weiß. Ob es mir gelingen wird, diesen auch für andere sichtbar werden zu lassen?