Der Garten der Liebe

Der Garten der Liebe

Zwei der bekanntesten Märchen, die auch eine Liebesgeschichte erzählen, sind Dornröschen und Froschkönig. Dornröschen wird von ihrem Prinzen wach geküsst. Der Frosch wird von der Königstochter aus lauter Wut an die Wand geschleudert. Dann sind die beiden erlöst und leben fortan glücklich zusammen bis an ihr Ende.

Und wie geht das, wenn Dornröschen und Froschkönig einander begegnen?

Mir scheint, das kommt häufig vor. Vielleicht, weil Märchenprinzen und wohl behütete Königstöchter kaum mehr zu finden sind?

Wenn ich mich erinnere an die vielen Märchen, die ich gelesen habe, verschwimmen manchmal die Personen und Geschichten vor dem Hintergrund der Landschaften, in denen sie stattfinden: den Wäldern und Gärten mit zauberkräftigen Kräutlein, der herrlichen Rosenhecke, die das Schloss von Dornröschen überwuchert, dem Schlosspark mit mächtigen Schatten spendenden Bäumen, in dem der Frosch am Brunnenrand sitzt..

Deshalb stelle ich mir die Liebe gerne vor als einen Garten, den zwei Menschen gemeinsam gestalten und pflegen.

Am Anfang, wenn die beiden einander kennen lernen und sich verlieben, sehen sie diesen Garten vor sich in all seiner Pracht und Schönheit. Sie tollen darin herum, entdecken jeden Tag neue lauschige Plätze und schwelgen in Freude und Glück. Hier wollen sie sich niederlassen und zusammen leben bis an ihr seliges Ende.

Kommt euch das bekannt vor? Ja, es ist wie im Märchen.

Leider ist dieser Garten eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung, die aus Sehnsucht besteht und aus dem, was die beiden Liebenden sich wünschen und vorstellen. Und es ergeht ihnen wie dem Wanderer in der Wüste: in ihrer Einsamkeit und ihrem Wunsch nach Nähe sind sie dem Wahnbild verfallen, können nicht anders als ihm zu folgen und vergessen darüber die restliche Welt.

Andere Menschen können den Garten nicht sehen, aber sie sehen die Verliebten mit ihren strahlenden Augen, ihrem verträumten Gang, sehen sie manchmal wie verzückt innehalten und wundern sich über die schier unerschöpfliche Kraft und Lebendigkeit.
Denn dies ist keine gewöhnliche Fata Morgana, die den Wanderer schließlich erschöpft und verdurstend zurück lässt. Dieses Wahnbild spiegelt auch eine Kraft, die tief im Herzen der Menschen wohnt.

Trotzdem: Eines Tages zerplatzt das Bild wie eine Seifenblase. Dahinter kommt etwas zum Vorschein, das weniger schillert und manchmal erschreckt. Vielleicht ein bescheidenes Gärtchen im Hinterhof, in dem ein großer Baum die Sonne verdeckt, ein Park mit beschnittenen Buchsbaumhecken, gepflegtem Rasen und makellos sauberen Kieswegen oder ein trockener steiniger Acker, auf dem gerade mal ein paar Disteln wachsen.

Verliebte reagieren unterschiedlich auf diese Verwandlung. Für den einen kann dieser Garten immer noch ganz wunderbar sein, und die andere will vielleicht weiter ziehen an einen neuen Ort. Das kann dann einem oder auch beiden sehr weh tun.

Was aber geschieht, wenn zwei Menschen beschließen, die Ärmel aufzukrempeln und das Stück Land gemeinsam zu bebauen?

Es bleibt ihr Geheimnis, was sie bewogen hat, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Doch lasst uns ein wenig über die blühende Hecke schauen und sehen, was dort, im Garten er Liebe, geschieht.

Es geht ja nichts in der Seele verloren. Deshalb finden wir in dem Garten alles, was die beiden Liebenden bisher erlebt und erfahren und auch, was sie von ihren Eltern bekommen haben an Liebe und Kraft und an Schwerem. Je größer die Fülle, desto verwirrender ist es am Anfang.
Denn der Garten ist größer als die Herzen der beiden Menschen gemeinsam.

Oft gibt es Bereiche, die schon gestaltet sind: schattenspendende Bäume, ein kleiner Bach, vielleicht eine rosenumkränzte Laube, ein Beet mit duftenden Kräutern. An diesen Orten können sich die beiden gemeinsam von ihrer Arbeit ausruhen oder sich zurückziehen, wenn sie mal alleine sein wollen.

Über dem Boden schweben oft noch Luftspiegelungen aus früheren, verlassenen Gärten und verstellen den Blick auf das Jetzt. Es gibt auch Plätze, die unheimlich sind, wo vielleicht einer dem anderen helfen muss, weil der sich alleine gar nicht dorthin traut. Und es gibt Stellen, die brachliegen, wo alles verdorrt ist, wo es vieler Tränen bedarf, um sie wieder fruchtbar werden zu werden zu lassen.

In der Erde verbergen sich die Samen vieler verschiedener Pflanzen und warten darauf, zu wachsen, zu blühen. Und es zeigen sich schon die ersten grünen Spitzen und Blättchen, die noch empfindlich sind und sich bei Unfreundlichkeit, bösen Worten und Streit am liebsten wieder in der Erde verkriechen würden, die verkümmern, wenn sie längere Zeit nicht beachtet werden. Am besten wäre es, jedes Pflänzchen, das sich hervorwagt, willkommen zu heißen und mit Wohlwollen zu umhüllen.

Ich könnte jetzt noch lange weitererzählen über all das, was es zu entdecken gibt im Garten der Liebe. Ich habe ja noch gar nicht gesprochen über die Käfer und Schmetterlinge, über die Baumelfen, die Blumenfeen und Kobolde. Und so vieles andere habe ich noch nicht erwähnt.

Doch während ich den beiden Liebenden zuschaue, wie sie sich mühen, alles gedeihen zu lassen, wie sie sich freuen über jede sich öffnende Blüte, und wie sie traurig sind, wenn ein Pflänzchen verwelkt, während ich all das sehe, wächst auch in mir etwas.

Wie benenne ich das: Hoffnung? Zuversicht? Glauben?
Ich beginne, für möglich zu halten, dass die beiden in diesem Garten genesen von ihren Wunden, die ihnen - ja, durch die Liebe – zugefügt wurden. Dass sie mit dem Garten ihrer eigenen Heilung entgegenwachsen und eines Tages, wer weiß, sogar das besondere Kräutlein finden, das sie von ihrem Zauber erlöst.

Zum Abschluss will ich Euch noch ein Geheimnis verraten. Eine hundertjährige Fichte mit weit ausgebreiteten Wurzeln, zwischen denen ich manchmal Zuflucht suche, hat es mir zugeflüstert:

Dieser Garten der Liebe hat eine ganz besondere Eigenschaft. Er kann sich ausdehnen, wird größer und größer, ohne dabei jemand anderem auch nur ein Fleckchen von seinem Platz wegzunehmen. Im Gegenteil, seine Farben, sein Duft verwandeln die Welt rundherum und machen sie reicher und schöner.
Daran erkennt Ihr den Garten der Liebe.

Bild: Duftbild Tuberose